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Screening ist doch immer gut - oder nicht?

Als ich Anfang Oktober einen Artikel für "Plan G" zum Thema Früherkennung geschrieben habe (€), ahnte ich noch nicht, dass es in den Tagen und Wochen danach unzählige aktuelle Anlässe geben würde, den Artikel zu posten und darauf hinzuweisen, dass Früherkennung nicht das gleiche ist wie Vorsorge und dass Früherkennung nicht immer nützt und manchmal sogar schadet. War vielleicht auch ein bisschen naiv, denn der Oktober ist ja als "Brustkrebs-Monat" etabliert und das ruft natürlich eine ganze Menge irreführende Werbung für Brustabtasten, Mammografie und Co. auf den Plan. Und im "Movember" geht es um Männergesundheit (also auch um Prostatakrebs, Hodenkrebs etc.). Also hätte mir eigentlich auch klar sein müssen, dass auch im November noch einiges zum Thema los sein würde (und der Monat ist noch nicht vorbei).

Schön wäre es, wenn sich die schlechten Beispiele nur auf die USA beziehen würden, z.B. wie hier ein atemberaubendes Exempel, wie schlechter Journalismus auf einmal die Reporterin selbst mit in den Sumpf der (vermutlichen) Übertherapien zieht. Und natürlich ist auch Twitter voll mit solchen Geschichten:

Aber Vinay Prasad hat das ja gleich sehr passend kommentiert:

Ignorant or greedy: Ich weiß nicht genau, was ich mir als Erklärung für zwei weitere deutsche Beispiele wünschen soll.

So ignoriert eine große deutsche Krankenkasse großzügig das Thema "informierte Entscheidung" (hallo Patientenrechtegesetz?) und ersetzt das durch "Auf zur Vorsorge(!)untersuchung!" Wenn der Dachverband, zu der die Krankenkasse gehört, gleichzeitig immer betont, dass sie die Gesundheitskompetenz fördern wollen, ist das schon ein bisschen merkwürdig.

Noch unglaublicher aus der letzten Woche:

Den deutschen Frauenärzten (DGGG und BVF) gefällt die Bertelsmann-Berichterstattung zu Überdiagnosen/Übertherapien und besonders zum Ultraschall-Screening auf Eierstockkrebs nicht. Kein Wunder: Denn es ist kein Nutzen nachgewiesen, aber Potential für Schaden - aber gleichzeitig gehören Ultraschall-Untersuchungen zu den am häufigsten verkauften IGeL-Leistungen.

Was die Stellungnahme aber besonders dreist macht: Sie gibt die offizielle Leitlinien-Empfehlung falsch wieder (die rät nämlich auch vom generellen Screening ab, Empfehlung 3.2, übrigens wie auch zahlreiche andere internationale Empfehlungen, z.B. der ACOG, oder der USPSTF) und wirft dem IQWiG vor (auf dessen Gesundheitsinformation die Bertelsmann-Einschätzung beruht), veraltete Daten zu benutzen. Stattdessen zitiert sie eine alternative Studie, um die Wichtigkeit des Screenings zu betonen. Das weist das IQWiG in einer Pressemitteilung von sich.

Wer hat denn jetzt recht? Schauen wir uns doch mal an, mit welchen Studien die beiden Institutionen ihren Standpunkt untermauern:

a) Das IQWiG stützt sich auf eine randomisierte kontrollierte Studie mit rund 200.000 Frauen, bei denen Screening mit einem Biomarker, Screening mit Ultraschall und kein Screening verglichen werden, mit einer Nach-Beobachtungszeit von im Mittel 11 Jahren.

b) Bei der von den Frauenärzten angeführten Studie handelt es sich um eine Untersuchung zur diagnostischen Genauigkeit einer bestimmten Ultraschall-Technik für das Screening.

Und was wissen wir darüber, mit welcher Art von Studie wir eine Intervention (denn darum handelt es sich bei einem Screening) am besten untersuchen sollten? Ja, genau...

Also nochmal die Frage: Ignorant or greedy? Diese Episode reiht sich ein in eine ganze Menge von Beobachtungen, dass es die Fachgesellschaften mit der Evidenz (oder darf man hier schon sagen: mit der Wahrheit?) wohl nicht ganz so genau nehmen.

Interessanterweise ist zufällig letzten Freitag eine Untersuchung an US-Gynäkologen erschienen, die Einstellungen zu just diesem Screening untersucht (danke an Roland Büchter für den Hnweis!). Das Ergebnis:

Gynaecologists who recommend ovarian cancer screening—which is neither justified by evidence nor supported by medical associations—followed some of the same reasoning (eg, fear of litigation) that has been observed in other clinical settings. Our study uncovers an additional mechanism behind this potentially harmful behaviour: misconceiving basic concepts of cancer screening statistics.

Dieser Studie zufolge wäre die Antwort auf unsere Frage: "Ignorant or greedy?" relativ eindeutig: "probably both".

Update 16.11.2019
Am 12.11. haben die Frauenärzte nochmal nachgelegt. Das neueste Argument: Sie fordern ja gar kein allgemeines Screening, sondern empfehlen nur die Früherkennung. Ähm... Angeblich wäre der Begriff Screening ja für die organisierten Programme reserviert (wie z.B. bei der Mammografie), gemeint wäre aber immer die individuelle Früherkennung. Sehr interessantes, wenn auch ziemlich durchsichtiges Manöver zur Schadensbegrenzung. Dumm nur, dass Screening einfach der englische Begriff für Früherkennung ist und in Wirklichkeit die Unterscheidung zwischen "Screening-Programm" (organisiert, mit Einladung und Qualitätssicherung) und opportunistischem oder grauem Screening (bei einem normalen Arztbesuch) gemacht wird. Die Anforderungen sind aber in beiden Fällen gleich (bzw. der Abstand zwischen Nutzen und Schaden bei einem organisierten Programm noch höher anzusetzen). Im vorliegenden Fall erfüllt das Ultraschall-Screening aber für kein Setting die Anforderungen - denn schließlich ist kein Nutzen nachgewiesen. Wer sich nochmal umfassend zum Thema Screening belesen will: Dieser online verfügbare Text von Angela Raffle enthält alles, was man zum Thema wissen muss.

Transparenz-Hinweis: Ich bin Mitglied im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und habe deshalb großes Interesse an einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung. Im Herbst 2018 habe ich beim IQWiG-Herbstsymposium einen Vortrag gehalten und dafür ein Honorar und Reisekostenerstattung bekommen.