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Lesetipps: Wie streng ist die Zulassung?

Der Start von 2020 ist eine gute Gelegenheit, nochmal einen kurzen Blick in das alte Jahr zu werfen... Schöner Einstieg, aber der Grund ist eigentlich ein anderer: Auf meiner Themenliste stehen noch einige Lesetipps, die ich 2019 nicht mehr geschafft hatte zu verbloggen ;-) In der Rückschau ergibt sich aber eine gemeinsame Frage dieser Veröffentlichungen: Wie streng sind eigentlich die Anforderungen, die die Zulassungsbehörden an die Evidenz neuer Arzneimittel stellen?

Dieses Thema ploppt in meinem Blog ja immer wieder mal hoch (hier die Suchergebnisse zum Stichwort "Zulassung") und ich finde es interessant, wie sich die Dinge im Laufe der Zeit entwickeln. tl;dr: Es wird nicht besser.

Bevor ich auf die einzelnen Publikationen eingehe, ein kurzer Disclaimer:
  • Ich habe nicht systematisch recherchiert, sondern dieser Blogpost basiert auf Artikeln, über die ich im Laufe von 2019 in den von mir abonnierten Inhaltsverzeichnissen medizinischer Fachzeitschriften gestolpert bin. Deshalb sind auch nur relativ wenige Journals vertreten. Ich erhebe also nicht den Anspruch, die komplette Forschung zu diesem Thema im letzten Jahr abzubilden. 
  • In allen Publikationen geht es um Krebsmedikamente - bei anderen Indikationen sieht es möglicherweise anders/besser aus. 
  • Ebenso beziehen sich die Analysen auf die Zeiträume bis längstens 2016 bzw. 2018 - ob sich die Verhältnisse danach verändert/verbessert haben, lässt sich mit den Untersuchungen also nicht abbilden.


Schauen wir uns zuerst einmal die drei Studien an, die sich mit der Zulassungspraxis der FDA, also der US-amerikanischen Zulassungsbehörde beschäftigen (chronologisch in der Reihenfolge der Publikation).

Wie gut ist die Vergleichstherapie?

Bereits im Mai ist eine Analyse in JAMA Oncology erschienen, die sich der Frage nach den Vergleichsarmen in Zulassungsstudien widmete. Zur Erinnerung: Die meisten Arzneimittel werden für Indikationen zugelassen, für die es bereits Therapieoptionen gibt. Für diejenigen, die Behandlungsentscheidungen treffen, ist es dann wichtig zu wissen, welchen Nutzen das neue Arzneimittel im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie hat. Das bedeutet konsequenterweise, dass die Zulassungsstudien auch genau diese Fragestellung untersuchen sollten. Passiert das tatsächlich?

Um diese Frage zu beantworten, hat sich das Forschungsteam die US-Neuzulassungen zwischen Januar 2013 und Juli 2018 vorgenommen. Für jede Indikation wurde die relevante Literatur inkl. Leitlinien nach Hinweisen auf die bestverfügbare Standardtherapie gesichtet - und zwar ein Jahr vor dem Zeitpunkt, an dem die ersten Patient*innen in die Studie aufgenommen wurden. Als suboptimale Vergleichstherapie in den Zulassungsstudien wurden solche Behandlungsarme gewertet, in denen empfohlene Behandlungsoptionen ausgeschlossen waren, bei denen die Standardtherapie nicht erwähnt wurde oder bei denen Wirkstoffe zum Einsatz kamen, für die randomisierte kontrollierte Studien (RCT) eine Unterlegenheit gegenüber verfügbaren Alternativen festgestellt hatten.

Von den 143 Zulassungen von Krebsmedikamenten im genannten Zeitraum auf der Grundlage von RCTs konnten 48 nicht ausgewertet werden, weil sie nur auf einarmigen Studien basierten. Von den Studien mit Vergleichsarmen enthielt rund jede sechste (17%) eine suboptimale Standardtherapie.

Das hört sich von der Größenordnung her erst einmal nicht so besorgniserregend an. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass diese Studien die relevanten Fragen von Patient*innen und Behandelnden nicht beantworten können und der Stellenwert des neuen Mittels für sie nicht einzuschätzen ist - denn eine suboptimale Vergleichstherapie verzerrt die Studienergebnisse zugunsten des neuen Mittels. In den allermeisten Fällen wurden die neuen Arzneimittel uneingeschränkt für ihr jeweiliges Indikationsgebiet zugelassen, so dass auch nicht zu erwarten ist, dass zeitnah Studien mit anderen, relevanteren Vergleichsarmen durchgeführt werden.

JAMA Oncol. 2019;5(6):887-892

Was bringt's?

In einer weiteren Untersuchung, publiziert im Juli in JAMA Oncology, analysierten die Autor*innen die Endpunkte in Studien, die in US-Zulassungen zwischen 2011 und 2017 mündeten. Basis der Auswertung waren 65 Wirkstoffe für 71 onkologische Indikationen. Zusätzlich wurden auch Studien nach der Zulassung berücksichtigt.

Bei nur rund jeder fünften (21%) Indikation lagen bei der Zulassung Daten zum Gesamtüberleben (overall survival, OS) vor - allerdings lag der Median der Lebensverlängerung bei lediglich 1,7 Monaten. Nach der Zulassung (im Median rund vier Jahre danach) konnte eine Verlängerung des Gesamtüberlebens für weitere acht Wirkstoffe nachgewiesen werden, so dass bei rund jeder dritten Indikation (32%) eine Verringerung der Mortalität belegt war. Allerdings kamen Studien bei 18 % der Indikationen zu dem Ergebnis, dass der Wirkstoff das Gesamtüberleben nicht verlängert und bei rund der Hälfte (49%) gab es auch mit den Studien nach der Zulassung keine Daten zum overall survival.

Wenn eine Verlängerung des Gesamtüberlebens nicht belegt oder untersucht ist, stellt sich natürlich die Frage, ob der neue Wirkstoff denn zumindest weitere patientenrelevante Endpunkte wie etwa die Lebensqualität verbessert. Das traf in der Analyse jedoch nur auf ein Viertel der neuen Arzneimittel zu, wenn die Autor*innen auch die Studien nach der Zulassung berücksichtigten.

Insgesamt war damit für mehr als die Hälfte der onkologischen Indikationen kein patientenrelevanter Nutzen zum Zeitpunkt der Zulassung belegt. Das ist eine schlechte Nachricht für Patient*innen, die an Krebs erkrankt sind. In der Diskussion verweisen die Autor*innen auf eine weitere Analyse, dass die Kosten für neue Krebsmedikamente ähnlich hoch sind, egal ob ein patientenrelevanter Nutzen belegt ist oder nicht - das ist eine schlechte Nachricht für die Gesundheitssysteme. Es besteht also mindestens aus zwei Perspektiven dringender Handlungsbedarf.

JAMA Oncol. 2019;5(9):1358-1359

Wie gut ist die Evidenz?

Traditionell wurden die Zulassungsregeln der FDA immer so interpretiert, dass zwei Studien für die Zulassung notwendig sind. Das Gesetz, das die Zulassung in den USA regelt, lässt unter bestimmten Umständen aber auch zu, dass eine einzelne Studie ausreichen kann. Dann ist es notwendig, dass die Ergebnisse dieser Studie robust genug sind. Aber ist das auch tatsächlich der Fall? Diese Frage hat sich ein Forschungsteam vorgenommen und die Ergebnisse im Oktober im Journal of Clinical Epidemiology veröffentlicht.

Berücksichtigt wurden alle Zulassungen der FDA für onkologische Indikationen zwischen 2000 und 2016, die jeweils auf einer einzelnen Studie basierten, insgesamt 35. Dabei beruhten 20 auf einer randomisierten kontrollierten Studie und 15 auf einer Studie ohne Vergleichsarm. In die Bewertung flossen mehrere methodische Kriterien ein, die die FDA auch selbst in einem "Guidance for Industry"-Dokument benennt:

  • ausreichend viele Teilnehmende und mehrere Studienzentren
  • konsistente Effekte über a) Subgruppen b) Endpunkte und c) Vergleiche hinweg
  • statistisch überzeugende Ergebnisse
Das Forschungsteam operationalisierte diese Kriterien dann noch weiter und führte auch noch diverse Sensitivitätsanalysen durch (z.B. für die Frage, wie viele Teilnehmende ausreichend viele sind).

Bei 94% der Studien identifizierte das Forschungsteam mindestens ein Kriterium für Robustheit, im Median waren es zwei. Keine Studie wies alle Kriterien auf und 6% nur eins. Die Sensitivitätsanalysen kamen zu keinen wesentlich anderen Ergebnissen. 

Das Forschungsteam hat auch untersucht, wie in den Zulassungsdokumenten die Kriterien benannt und untersucht werden, fand aber dort keine klare und konsistente Operationalisierung und oft war die Berichterstattung in dieser Frage unzureichend. Das erhöht natürlich nicht das Vertrauen in die Zulassungsentscheidung...

J Clin Oncol 2019; 114:49–59

Und in Europa?

Ist die Situation bei der europäischen Zulassungsbehörde besser? Ein Forschungsteams hat die Studiendesigns und das Risiko für Bias von Studien genauer unter die Lupe genommen, die zwischen 2014 und 2016 für onkologische Zulassungen bei der EMA herangezogen wurden. Die Auswertung erschien im September im British Medical Journal.

Basis der Analyse waren 32 neue Wirkstoffe, für die 54 Hauptstudien eingereicht wurden. Davon waren drei Viertel (76%) RCTs, die anderen nicht-randomisierte oder einarmige Studien. In die Auswertung wurden 39 RCTs eingeschlossen, für die Publikationen in Journals oder Studienregistern verfügbar waren.

Nur jeder vierte RCT erhob Gesamtüberleben als primären Endpunkt, die anderen beruhten auf Surrogatparametern wie progressionsfreiem Überleben oder Ansprechen. Risiko für Bias (ROB) wurde mit dem Cochrane ROB 2.0-Tool erhoben und die Hälfte der RCT wurde als "high risk for bias" eingestuft. In den Zulassungsdokumenten fanden sich bei rund einem Drittel der RCT weitere Kritikpunkte jenseits von ROB wie Größenordnung des klinischen Effekts, unangemessene Vergleiche und wenig aussagekräftige Endpunkte. 

Auch in Europa stehen die Zulassungen von onkologischen Mitteln also auf sehr wackligen Evidenz-Beinen...

BMJ 2019;366:l5221

Was jetzt?

Das Autoren-Team der BMJ-Publikation stellt einige Forderungen auf, mit denen sich die Evidenz-Basis der Zulassung verbessern lässt (auch in einem begleitenden Blogpost). Dazu gehören zum Beispiel:
  • Primärer Endpunkt von onkologischen Studien sollte das Gesamtüberleben sein. Auch soll die Lebensqualität erhoben werden und Surrogate nur verwendet, wenn sie ausreichend validiert sind.
  • Die Größenordnung des Nutzens sollte berücksichtigt werden.
  • Risk of bias lässt sich verringern, wenn bei subjektiven Endpunkten ein zusätzliches verblindetes zentrales Review etabliert wird.
  • Bei fehlenden Daten (etwa bei loss to follow-up) sind Sensitivitätsanalysen sinnvoll, die dann aber vollständig berichtet werden müssen.
  • Der europäische Beurteilungsbericht (EPAR), der bei jeder Zulassung erstellt wird, sollte für alle Studien eine ROB-Bewertung enthalten. Diese sollte zusammen mit den Studienergebnissen auch in die Studienregister aufgenommen werden.